„Sozialer Zusammenhalt” – Konzeptuelle Analyse und theoretische Verortung

Zielsetzung und Fragestellung

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist ein schillernder Begriff: Ist er deskriptiv oder normativ, bewegt er sich auf der Handlungs- oder der Strukturebene, wen schließt er ein und wen aus? In diesem Projekt soll es darum gehen, den Begriff näher zu bestimmen, auch mit Bezug auf das Spezifikum „demokratischen“ Zusammenhalts. Daher werden in einem ersten Schritt die Verständnisse, Funktionen und Wertungen gesellschaftlichen Zusammenhalts im sozialphilosophischen und gesellschaftstheoretischen Diskurs der Moderne seit Durkheim und Weber über Parsons und Habermas bis hin zum Kommunitarismus (Bellah et al. 1985; Putnam 1993), Neo-Republikanismus (Pettit 2012) und gegenwärtigen Sozialontologien (Searle 2010) rekonstruiert. Auf dieser Analyse aufbauend, wird in einem zweiten Schritt das begriffliche Feld vermessen, in dem „gesellschaftlicher Zusammenhalt“ positioniert ist. In welcher Beziehung steht der Begriff zu anderen Konzepten wie etwa Solidarität, Vertrauen, Toleranz, Kooperation und Integration, die das Binnenverhältnis von Bürger*innen in modernen Gesellschaften kennzeichnen?
In diesem Zusammenhang soll die Unterscheidung von Konzept und Konzeptionen des Zusammenhalts fruchtbar gemacht werden (Forst 2003). Das allgemeine, normativ neutral gehaltene Konzept des Zusammenhalts, so die Ausgangsthese, bezieht sich auf Kollektive, deren Mitglieder positive Einstellungen zueinander und zu ihrem Gesamtkontext aufweisen, in dem sie Teil von Praktiken und Beziehungen sind, die einen Gemeinschaftsbezug haben und sich in (institutionelle und nichtinstitutionelle) Prozesse der Kooperation und Integration einfügen, die die Mitglieder zugleich thematisieren und evaluieren. Zusammenhalt entsteht dort, wo diese Ebenen hinreichend übereinstimmen – in den Einstellungen, Handlungen, Beziehungen, Institutionen und Diskursen einer Gesellschaft. Dieser Begriff des Zusammenhalts ist, so ferner unsere Auffassung, normativ abhängig, was bedeutet, dass spezifische Konzeptionen des Zusammenhalts, die normativer Natur sind, diese Normativität aus anderen Quellen entlehnen müssen.
So soll eine eigenständige Konzeption demokratischen Zusammenhalts vorgelegt werden, die die Akteurs- und Strukturebene verbindet. Unserem Vorschlag zufolge entsteht sozialer Zusammenhalt dort, wo es ausreichend geteilte Rechtfertigungen der gesellschaftlichen Prozesse und Institutionen gibt, deren Teil man ist. In pluralen Gesellschaften können diese Rechtfertigungsnarrative (Forst 2015) nicht mehr problemlos auf substanzielle Wertüberzeugungen zurückgreifen, sondern müssen sich auf die legitimitätsgenerierende Kraft demokratischer Verfahren beziehen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird demnach nicht vorgefunden, sondern von Bürger*innen unter bestimmten Bedingungen in sozialen und politischen Prozessen erzeugt. Diese Konzeption im Dialog mit empirischer Forschung auszuarbeiten, ist ein zentrales Ziel des Projekts.

Thematischer Bezug zu gesellschaftlichem Zusammenhalt

Da sich das Forschungsprojekt direkt mit dem Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts auseinandersetzt, liegt der thematische Bezug zu den Grundfragen des Instituts auf der Hand. Diese Arbeit am Grundbegriff des Instituts versteht das Forschungsprojekt gleichzeitig auch als Arbeitsauftrag, innerhalb des Gesamtinstituts eine systematische Diskussion zum Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts – und seiner semantischen Nachbarbegriffe – anzustoßen und zu strukturieren. Hierzu wird das Projekt ein FGZ-Theoriekolloquium aller elf Standorte organisieren, welches einerseits den theorieinternen Austausch befördern und andererseits einen systematischen Dialog zwischen Theoretiker*innen und empirischen Sozialforscher*innen über den Grundbegriff des Instituts ermöglichen soll. Diese Kolloquiumsreihe soll mit einer internationalen Konferenz zu Begriff und normativer Bewertung gesellschaftlichen Zusammenhalts abgeschlossen werden.


Bellah, Robert N.; Madsen, Richard; Sullivan, William; Swidler, Ann; Tipton, Steven M. 1985: Habits of the Heart: Individualism and Commitment in American Life, Berkeley, CA.

Forst, Rainer 2003: Toleranz im Konflikt, Frankfurt/M.

Forst, Rainer 2015: Normativität und Macht, Berlin.

Pettit, Philip 2012: On the People’s Terms. A Republican Theory and Model of Democracy, Cambridge.

Putnam, Robert 1993: Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy, Princeton.

Searle, John R. 2010: Making the Social World: The Structure of Human Civilization, Oxford.

Projektleiter und Kontakt

Rainer Forst

Stellvertretender Sprecher Teilinstitut Frankfurt, Mitglied im Ausschuss Innovation und Strategie, Projektleiter
Kontakt

forst@em.uni-frankfurt.de

+49 69 798-31541

Externe Kooperationspartner*innen

Prof. Dr. Axel Honneth, Columbia, New York
Prof. Dr. Nancy Fraser, New School for Social Research, New York
Prof. Dr. Michael Zürn, WZB Berlin
Prof. Dr. Lea Ypi, LSE, London

Cluster, Forschungsfelder und Laufzeit

Cluster 1: Theorien, Politiken und Kulturen des Zusammenhalts
Forschungsfeld: Grundbegriffe, Theorien und Semantiken
Laufzeit: 10 / 2020 – 09 / 2023