Moralismus in analogen und digitalen Debatten: Eine Gefahr für die Demokratie? Zweite Auflage des Debattenformats „Kontrovers: Aus dem FGZ“

Am 23.09.2021 ging das FGZ-Debattenformat „Kontrovers: Aus dem FGZ“ in die zweite Runde. Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Direktor em. des WZB Berlin, und Dr. Cord Schmelzle, Koordinator und Projektleiter am FGZ-Standort Frankfurt, diskutierten zum Thema Moralismus in analogen und digitalen Debatten.

Moral, so Cord Schmelzle, sei dabei zunächst einmal nicht grundsätzlich problematisch, sondern vielmehr die Grundlage unseres politischen Koordinatensystems. Die Frage sei eher, wie Moral in der politischen Debatte gebraucht werde. Dabei gelte es zunächst auch begrifflich scharf zu bleiben und Konzepte wie Moral und Moralisierung als moralische Verhandlung von Sachverhalten, Moralismus als eine ungerechtfertigte Moralisierung auseinanderzuhalten. Die Ausweitung moralisierender Argumentationen – hier herrschte Einigkeit zwischen den Debattierenden – sieht Schmelzle dabei primär in einem Versagen der institutionellen Architektur begründet, das zu einer wahrgenommenen Auflösung der moralischen Arbeitsteilung zwischen Staat und Bürger*innen geführt hat. Während früher also der Staat dafür zuständig war, moralische Fragen institutionell einzuhegen und die Bürger*innen in ihrem Privatleben zu entlasten, werde diese Pflicht heutzutage als unzureichend erfüllt wahrgenommen. Dies führe dazu, dass vor allem linke Akteur*innen wie die Klimabewegung sich dieser moralischen Fragen annehmen. Dabei gehe es an einigen Stellen zwar um eine Moralisierung des individuellen Konsumverhaltens, es sei jedoch nicht zu vergessen, dass eine der zentralen Forderungen von Fridays for Future gerade nicht auf das individuelle Konsumverhalten abziele, sondern die Einhaltung des von den politischen Akteur*innen selbst vereinbarten Pariser Klimaabkommens fordere. Ein produktiver Weg mit dieser steigenden Moralisierung umzugehen, sieht Schmelzle so in einer Fokussierung auf Institutionenkritik und die Wiederherstellung der moralischen Arbeitsteilung.

Wolfgang Merkel stieg mit einer Kritik an der Verwendung des Begriffs Moral im Singular in die Diskussion ein. Es gebe vielmehr einen moralischen Pluralismus, der beinhalte, dass Moral(en) immer kontextabhängig seien, sich also zeit- und raumabhängig variabel präsentieren. Diese Pluralität müsse ausgehandelt werden, dies sei eine zentrale Funktion einer Demokratie. Problematisch sei jedoch die normative Dimension von Moral, die in einem Gegensatz von „Moral“ vs. „Unmoral“ münde und so zu Exklusionsmechanismen führe, die für eine Demokratie per se ein Problem darstellten. Merkel sieht den Grund für die Ausweitung moralisierender Argumentationen in einer Kulturalisierung der Linken, die so klassische Verteilungsfragen in den Hintergrund gedrängt habe. Die Moralisierung stellt sich für ihn hierbei als eine negative Erscheinung dar, bei der es um die Universalisierung eigener egozentrischer Moralvorstellungen geht, die gar einer narzisstischen Selbstüberhöhung gleichkämen und kritische Diskurse einschränken. Ursächlich sei dabei auch eine Epistemisierung von Politik sowie eine Politisierung von Wissenschaft, in der wissenschaftliche Ergebnisse und Lösungsvorschläge z.B. in Bezug auf den Klimawandel als alternativlos dargestellt würden. Laut Merkel gelte es dieser Entwicklung entgegenzuwirken, indem deliberative Arenen z.B. in Form von Bürger*innenräten ausgebaut würden.

So entspannte sich eine inhaltlich dichte Debatte, in der Themen von Klimawandel über die historische Arbeiter*innenbewegung bis hin zum Brexit kontrovers diskutiert wurden. Auch im Chat fand seitens der Zuschauer*innen ein reger Austausch statt, aus dem immer wieder Fragen in die Debatte eingespeist wurden.

Die gesamte Diskussion kann auf dem YouTube-Kanal des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt angeschaut werden.